24.03.2021

CO2 als Materialrohstoff

Mara Linn Becher, Interface

Gut im Erklären komplizierter Zusammenhänge: Mara Linn Becher ist Regional Sustainability Manager D/A/CH bei Interface. | Fotos: Interface

Mara Linn Becher, Regional Sustainability Manager D/A/CH bei Interface, erklärt im Interview mit InteriorFashion, wieso ihr Unternehmen CO2 nicht mehr als Schad-, sondern als Wertstoff betrachtet.

CO2 in der Produktion vermeiden ist eine Sache, CO2 dauerhaft binden und damit aus der Biosphäre fernhalten, eine andere. Was also, wenn man Kohlenstoff nicht mehr als Schadstoff, sondern als Rohstoff wertet und damit dauerhaft im technischen Kreislauf hält?


Der Spezialist für textile Bodenbeläge Interface baut auf diesem Gedanken seine gesamte Nachhaltigkeitsstrategie auf. Das Unternehmen mit Standorten in den USA, Europa, Asien und Australien beschäftigt sich seit mehr als 25 Jahren mit Klima- und Ressourcenschutz. Schwerpunkt ist die Reduzierung der CO2-Emissionen in der eigenen Produktion, aber auch in der gesamten Branche des Bauen und Wohnens.

InteriorFashion: Frau Becher, was sind Ihre Aufgaben als Sustainability Manager für Deutschland, Österreich und die Schweiz?

Mara Linn Becher: Interface engagiert sich seit mehr als 25 Jahren für eine Produktion mit möglichst geringem CO2-Fußabdruck. Diese Transformation in den Geschäftstätigkeiten und Produktfeldern ist sehr komplex, auch für uns interne Mitarbeiter. Eine meiner Aufgaben ist, diese Fülle an Informationen weiterzugeben und für jeden Ansprechpartner – ob intern oder extern – so aufzubereiten, dass der Betreffende sofort erkennt, was für ihn relevant ist.


Ziel ist, das Thema der CO2-Emissionen in der Branche auch unseren Partnern und Kunden gegenüber immer wieder zu thematisieren.

Die Baubranche ist für knapp 40% des CO2-Ausstoßes weltweit verantwortlich. Als Akteur dieser Branche und als Unternehmen, das seine ökologische und soziale Verantwortung ernst nimmt, sehen wir, dass sich da was bewegen muss. Deshalb wollen wir konkrete, von uns bereits erprobte Lösungsansätze publik machen und andere Unternehmen motivieren, es uns gleich zu tun. Teil unserer Nachhaltigkeitsstrategie ist, mit den anderen Marktteilnehmern aktiv in den Dialog zu treten, um gemeinsam eine industrielle Revolution auf den Weg zu bringen.


Dazu besuchen wir auch Universitäten und vermitteln unser Knowhow an Studierende, also an die künftige Generation von Innenarchitekten und Planern. Die Ausgangsfrage ist stets: Was brauche ich für ein nachhaltiges Gebäudedesign? Dann erklären wir, wie wir für unsere Produkte und Prozesse eine Lebenszyklusanalyse erstellen, wie wir daraus die Angaben für die Europäische Umweltproudktdeklaration (EPD) ermitteln. Viele sind überrascht, wie viele Informationen wir Hersteller damit schon bereitstellen. Da sind wir ziemlich transparent.

InteriorFashion: Als Teil einer internationalen Abteilung haben Sie sicher einen guten Überblick über nachhaltige Bemühungen im Ausland. Wo rangiert hier die D/A/CH-Region? Woher bekommen Sie die meisten Impulse?

Mara Linn Becher: Vor allem Frankreich und die Niederlande sind sehr umtriebig. Typisch für die DACH-Region und den deutschsprachigen Raum ist aber sicherlich, dass man sich gerne auf dem neuesten Stand der Forschung bewegt und diesen in der Produktion abbilden will. Zudem ist der Diskurs häufig sehr faktenbasiert und ergebnisorientiert. Es geht weniger um emotionale Statements als um Strategien und Resultate.

InteriorFashion: Diesen wissenschaftlichen Ansatz sieht man auch deutlich an der Nachhaltigkeitsstrategie von Interface. Können Sie uns diese kurz skizzieren?

Mara Linn Becher: Unsere Strategie trägt den Namen "Climate Take Back", also Umkehr des Klimawandels. Kern des Konzepts ist die Auseinandersetzung mit den planetaren Grenzen, wie sie der schwedische Resilienzforscher Professor Dr. Johan Rockström, skizziert hat. Mit den planetaren Grenzen sind die Belastungsgrenzen der Erde gemeint, also so etwas wie die Rote Linie des Ökosystems. Wird diese dauerhaft überschritten, kippen in der Folge Ökosysteme, und es kommt zu gravierenden Umweltveränderungen, die auch die Lebensräume der Menschen gefährden. Die Pandemie führt das gerade deutlich vor Augen.

InteriorFashion: Welches sind denn die planetaren Grenzen?

Mara Linn Becher: Die planetaren Grenzen bezeichnen konkrete Grenzwerte bei deren Erreichen oder Überschreiten das Ökosystem aus den Fugen gerät. Man spricht auch von Kipppunkten. Interface konzentriert sich auf die CO2-Konzentration in der Atmosphäre, hier liegt der Grenzwert oder Kipppunkt laut Rockström bei 335 ppm. Zum Vergleich: 2019 lag der CO2-Anteil der Atmosphäre laut WMO-Bericht bei 410 ppm, das ist der bisherige Höchststand seit 1958. Weitere Dimensionen der Belastungsgrenzen der Erde sind zum Beispiel Flächenfraß, die Versauerung der Ozeane oder der Ozonabbau.

InteriorFashion: Wie drosselt Interface die CO2-Emissionen im Produktionsprozess denn konkret?

Mara Linn Becher: Unser Unternehmen verfolgt einen regenerativen Ansatz. Seit 2003 stellen wir unsere Geschäftstätigkeit und Produktionsweise so um, dass sie dazu beitragen, die Effekte der globalen Erwärmung umzukehren und ein weiterhin lebenswertes Klima zu schaffen.


Die Mission "Climate Take Back" bedeutet ein radikales Umdenken, denn wir betrachten CO2 nicht mehr als Schadstoff, sondern als Ressource. Das heißt erstens, wir wollen der Atmosphäre kein zusätzliches CO2 mehr hinzufügen, und zweitens, versuchen wir, das sich bereits in der Atmosphäre befindliche CO2 zu nutzen und natürliche oder künstliche Kohlenstoffsenken zu unterstützen – zum Beispiel, indem wir Kohlenstoff in unseren Produkten verwenden.

InteriorFashion: Kohlenstoff als Materialrohstoff? Das müssen Sie näher erklären!

Mara Linn Becher: Genauso wie Bäume oder Pflanzen können wir CO2 in Form von Kohlenstoff binden, indem wir ihn als Rohstoff in unseren Produkten einsetzen und damit zirkulär in etwas Nützliches verwandeln, also immer wieder aufbereiten und wiederverwenden. Polyester oder Polyamid sind gängige Beispiele dafür.


Wir machen uns hier also die Funktionsweisen der Natur zunutze, die durch den Kohlenstoffkreislauf ein System geschaffen hat, dass den Baustein Kohlenstoff immer an den Ort transportiert, wo er grade benötigt wird und in natürlichen Kohlenstoffsenken speichert.


"CQuest Bio", eine PVC- und bitumenfreie Rückenkonstruktion für unsere Teppichfliesen ist so eine von uns geschaffene Kohlenstoffsenke. Demnächst kommt eine weiterentwickelte Variante, nämlich "CQuest Bio X" auf den Markt, die eine noch höhere Konzentration an CO2-negativen Materialien enthält.


Aus diesem Ansatz ergeben sich vier Handlungsfelder. "Live Zero": Wir nutzen nur das, was auch ersetzt werden kann, deshalb verwenden wir vorwiegend recycelte oder nachwachsende Materialien. "Love Carbon", diesen Punkt habe ich ja gerade angesprochen: Wir arbeiten daran, CO2 in Form von Kohlenstoff in unsere Produkte einzuarbeiten und so dessen Freisetzung in die Atmosphäre zu verhindern.


"Let Nature Cool": Wir unterstützen die natürliche Regeneration der Biosphäre, indem wir in ihre natürlichen Prozesse so wenig wie möglich eingreifen. Im Moment beeinträchtigt der CO2-Überschuss, den wir ausstoßen, diese Fähigkeit der Natur, sich selbst zu kühlen. Das heißt, wir müssen den natürlichen Kohlenstoffzyklus unterstützen, um Teil der Lösung, nicht des Problems zu sein.


Und schließlich: "Lead the industrial Re-Revolution". Wir arbeiten an neuen Geschäftsmodellen, die die Veränderung vorantreiben, kommunizieren unsere Lösungsansätze offen und wollen damit auch andere Unternehmen inspirieren.

InteriorFashion: Sie haben vorhin die Europäische Produktdeklaration angesprochen. Können Sie uns diese Information am Beispiel des "CQuest"-Produkts bitte mal veranschaulichen?

Mara Linn Becher: Zentraler Bestandteil einer EPD ist die Lebenszyklusanalyse, welche die Bilanzierung des Erderwärmungspotenzial - ausgedrückt in CO2e - beinhaltet. CO2e-Emissionen werden addiert, die Einbindung von Kohlenstoff bzw. Vermeidung der Emission von CO2e wird in Abzug gebracht.


Verschiedene nachwachsenden Rohstoffe sind unter anderem der Weg, uns den Kohlenstoffkreislauf zunutze zu machen und das in Form von Kohlenstoff gespeicherte CO2 zu binden. Ohne diese Verarbeitung würde der Kohlenstoff wieder emittieren – durch Verrottungsprozesse in der Natur oder die Verarbeitung z.B. als Brennstoff.


Gestaltet man Rohstoffentnahme und -verarbeitung sowie den Transport emissionsarm, ist es möglich, einige für sich betrachtet CO2-negative Materialien zur Weiterverarbeitung zu nutzen. Der Kohlenstoff ist also eingespeichert.


Wir haben diese Methode schon vorher genutzt, um den CO2-Fußabdruck unserer Produkte weiter zu reduzieren. Mit "CQuest Bio X" - "CQuest" ist übrigens vom engl. to sequester abgeleitet: sequestrieren/einbinden - bündeln wir all unsere Innovationen der letzten Jahre und schaffen es, den Emissionen auf der einen Seite der Bilanz so viel eingebundenen Kohlenstoff auf der anderen Seite gegenüberzustellen, dass wir von der Rohstoffentnahme bis zum Werkstor einen für die gesamte Teppichfliese negativen Fußabdruck erzeugen. Und negativ ist in diesem Fall äußerst positiv.

Andere Ansätze zur Einbindung von Kohlenstoff wie z.B. Carbon Capture und Storage haben derzeit noch einen enormen Energiebedarf. Wir sind also ziemlich stolz darauf, eine sehr umweltschonende Alternative zu nutzen.


Die Lebenszyklusanalyse geht im weiteren Verlauf auch auf die Nutzung und die Entsorgung ein. In der Nutzungsphase kann viel zur Reduzierung der Emissionen getan werden: Durchschnittlich entfällt ca. ein Drittel der Emissionen über den gesamten Lebenszyklus betrachtet auf die Art der Nutzung.


Wer also den Staubsauger mit erneuerbaren Energien betreibt und auf starke chemische Reiniger verzichtet, hat einen großen positiven Einfluss auf den CO2-Fußabdruck seines Bodenbelags. Reinigung und Instandhaltung sind aber auch ein wichtiger Faktor, um den Bodenbelag lange nutzen zu können und ihm im besten Fall eine weitere Nutzung in einem anderen Gebäude zu ermöglichen.

InteriorFashion: Wo wir jetzt so viel über Emissionen gesprochen haben – wie verhält es sich denn mit den Emissionen der Bodenbeläge bzw. der Luftqualität von Innenräumen? Welchen Beitrag leisten Interface-Produkte in diesem Punkt?

Mara Linn Becher: Wir halten uns nachweislich im Schnitt bis zu 90% unseres Tages in geschlossenen Räumen auf, wo die Schadstoffbelastung bis zu 100 mal höher als im Freien sein kann. Es ist also von großem Interesse, diese Innenräume so zu gestalten, dass die gesundheitliche Belastung so gering wie möglich ist. Textile Bodenbeläge tragen dazu bei, die Feinstaubkonzentration deutlich zu reduzieren.


Unsere Teppichböden werden von der GUT - Gemeinschaft umweltfreundlicher Teppichboden e.V. geprüft und unterschreiten vorgegebene Formaldehyd- und VOC-Werte. Unsere TVOC Werte liegen nach drei Tagen unter 250 [µg/m³], Formaldehyd unter 10 [µg/m³].


Um das einzuordnen: In der DGNB-Zertifizierung für Neubauten werden im Kriterium zur Qualität der Innenraumluft TVOC-Werte von ≤ 3000 bis ≤ 500 [µg/m³] mit Punkten honoriert, bei Formaldehyd zwischen

Für die Produktion der Rückenkonstruktion
Der neue Rücken besteht aus biobasierten und recycelten Materialien. | Foto: Interface
Hauptbestandteil der Kollektion
Für sich genommen sind einige der Materialien des Rückens CO2-negativ und reduzieren den CO2-Fußabdruck des Gesamtprodukts. | Foto: Interface

InteriorFashion: Der Boden ist ja nur ein Baustein der Architektur und Innenarchiktur. Ihr Unternehmen geht den Kohlenstoffkreislauf aber auch im großen Maßstab an. Mir fällt da das Stichwort "Factory as a Forest" ein. Was steckt da dahinter?

Mara Linn Becher: Um die Atmosphäre nicht weiter aufzuheizen, müssen wir so viel Kohlenstoff wie möglich binden. Dazu haben wir in unserer Nachhaltigkeitsstrategie das Handlungsfeld "Let Nature Cool" definiert.


Ein Beispiel ist dafür das Pilotprogramm "Factory as a Forest", das Interface gemeinsam mit Organisationen wie Biomimicry 3.8 und Terrapin Bright entwickelt hat. Dabei geht es darum, Produktionsstätten, die ja traditionell als CO2-Emittenden betrachtet werden, nach dem Vorbild leistungsstarker Ökosysteme umzubauen.


Wie das aussehen kann, testen wir gerade in unseren Produktionsstandorten in Minto in Australien und LaGrange in den USA. Dazu wurde zunächst erforscht, wie die Natur vorgeht, um CO2 zu binden, wie Stickstoff in natürlichen Kreisläufen zirkuliert wie Wasser gesammelt und gefiltert wird. Der zweite Schritt ist nun, eine bauliche Umgebung zu schaffen, die genauso funktioniert.


In einem weiteren Projekt, nämlich "Office as a Forest", haben wir diese Erkenntnisse auf Büroumgebungen übertragen und dazu Architekten und Designer gebeten, ein exemplarisches Gebäude so zu gestalten, dass es in den Schlüsselbereichen positiv auf seine Umwelt einwirkt. Dabei sind wir von der städtischen Umgebung unserer Unternehmenszentrale in Atlanta ausgegangen.


Das Referenzökosystem dafür war ein Mischwald aus Eiche, Hickory und Kiefer. Das ist ein gemäßigter Wald, der Schadstoffe besonders effektiv aus der Luft und Wasser filtert, CO2 abfängt, Wärme speichert und Regenwasser aufnimmt.


Davon inspiriert, haben die Architekten eine Fassadenverkleidung aus recycelbarem Polyester entwickelt, die das Gebäude wie mit einer weißen, transparenten Waldlandschaft umhüllt. Polyester als Baustoff bindet CO2, als transparentes Material lässt es viel natürliches Licht in die Arbeitsumgebung im Innern durch. Das Weiß reduziert die Außentemperatur und trägt dabei zu einer naturnahen Wärmeregulierung bei.


Zum Teil handelt es sich dabei zunächst noch um Modelle und Entwürfe. Was am Hauptsitz von Interface in Atlanta aber schon umgesetzt ist, ist, dass Regenwasser aufgefangen und in den Wasserkreislauf eingespeist wird – zum Beispiel als Spülwasser.

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