15.07.2020

Das heiße Herz

Martin Baitinger, Böblingen/Focus

Mit dem Umbau eines 22 Meter hohen ehemaligen Kirchturms in Freiburg im Breisgau wurde ein architektonisches Kleinod gerettet. Seine 200 qm Fläche über fünf Etagen sollen künftig unterschiedlichen öffentlichen und privaten Nutzungen dienen. Mit dem Einbau eines klassischen Kaminofens von Focus wurde dem Turm, der im Zuge seiner Profanierung die Glocke verloren hatte, ein neues Herz transplantiert.

Seit Jahren schweigt die Glocke und in der Kirche wird keine Messe mehr gelesen. Doch der Turm ist immer noch da. Massiv, fast schon trutzig und doch klar und elegant strebt er nach fernen Himmeln. Ungenutzt, nur Vögeln ein Heim. Doch auch das Vergessen-Sein ist nicht von Dauer. „Kommen Sie doch bitte herein." Im Eingang des ehemaligen Glockenturms der ehemaligen Kirche St. Elisabeth in Freiburg-Zähringen steht Ingrid Maria Buron de Preser, Filmarchitektin, Designerin und tapfere Prinzessin, die den verlassenen Kirchturm als Bauherrin, Planerin und Bauleiterin wachgeküsst hat.

"Ich habe den Turm gesehen und war sofort Feuer und Flamme." 2014 war das, da hatte Ingrid Buron den Turm in Freiburgs Offenburger Straße entdeckt. Zwei Jahre dauerten die Vorarbeiten, 2016 begann die konkrete Planung und 2018 erfolgte der Baubeginn. Ursprünglicher Erbauer der Kirche St. Elisabeth mitsamt ihrem Turm war Rainer Disse, einer der wichtigsten Kirchenarchitekten im deutschen Nachkriegssüdwesten. Der Egon Eiermann-Schüler errichtete die Kirche in den Jahren 1962 bis 1965 im Stil des Brutalismus. Dieser oft missverstandene Baustil hatte sich – vor allem bei öffentlichen Bauten – ab den frühen 1960er-Jahren weltweit durchgesetzt. Seine Protagonisten waren Architekten, die vom Krieg – nicht selten von zweien – geprägt waren. Mit ihren rohen, unverkleideten Betonbauten versuchten sie, moderne, kühne, klare Entwürfe in die vom Krieg zerstörten Städte zu bringen.

Sie wendeten sich damit gegen einen kleinbürgerlichen, die Geschichte verklärenden Wiederaufbau im Zeichen des Kitsches. Die neuen Gebäude sollten höchst pragmatisch, sozial und demokratisch sein. Der Brutalismus war ein politisches Projekt. Der Name hat im Übrigen nichts mit Mitleidlosigkeit zu tun, sondern leitet sich vom französischen "béton brut" her, dem rohen, unverputzten Baustoff.

Kein grober Klotz

Es ist ein klassisches Erzählmotiv: Der vermeintliche Unhold entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als zartfühlendes Wesen. So ist es auch bei vielen als "Beton-Monster" geschmähten Bauten des Brutalismus. Ihre sublimen Qualitäten offenbaren sie erst auf den zweiten oder gar dritten Blick. St. Elisabeth war ein Beispiel wie aus dem Lehrbuch des Baustils: unverputzt gemäß dem Prinzip der sichtbar gemachten Konstruktion, ungeschmückt im Sinne von nicht elitär, kompromisslos modern mit entschiedenem Gestus gegen alles Historisierende. Wobei die vertikalen Abdrücke der Brettschalung dem rohen Betonkörper eine Textur verleihen, die das Aufwärtsstrebende des Turms mit fast schon an die Gotik erinnernder Emphase in Szene setzt.


St. Elisabeth war ein Kind ihrer Zeit. Aufs Wesentliche konzentriert. Das Kirchenschiff: ein Quader mit Flachdach. Dazu ein freistehender Turm. Alles äußerst reduziert, fast schon asketisch, ohne jeden Zierrat. 2006 wandert die Kirchengemeinde endgültig in die benachbarte Kirche St. Konrad ab. St. Elisabeth wird profaniert und steht leer. Verschiedene Umnutzungsversuche scheitern, ehe das Kirchenschiff unter dem eigenwilligen Projektnamen "Church-Chill" in einen Wohnbau umgeformt wird. Der ursprüngliche Baukörper wird hierfür um zwei Etagen aufgestockt. Die West- und die Ostfassade bleiben weitgehend erhalten, die beiden anderen werden großflächig geöffnet. Das Pfarrhaus muss weichen, die Appartements werden 2013 verkauft, eines davon geht an Gregor Disse, den Sohn des Architekten. Und der Turm? Den scheint das alles nichts anzugehen. Lediglich seine Glocke muss er hergeben. Die 600 Kilogramm schwere "Cecilia" ruft heute in Tansania Gläubige zum Gebet.

"Die Bewahrung der Schönheit"

Doch dann kam Ingrid Maria Buron de Preser, sah und liebte. Sie überzeugt die Stadt und die Landesdenkmalbehörde, Gregor Disse und die Immobilienfirma, die das Kirchenschiff umgestaltet hat. Sie begeistert die Anwohner – aber vor allem plant sie und lässt sich nicht abschrecken. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem im Sommer 2019 verstorbenen Fotografen Gerd Preser, erforscht sie den Turm und klopft ihn auf künftige Nutzungsmöglichkeiten ab, wobei sie die Idee, die dem Bauwerk zugrunde liegt, achtet. Es muss zwar im Kontext seiner neuen Nutzung weitergedacht werden, aber ohne Verrat an seiner ursprünglichen Idee zu üben. Rainer Disses Turm soll "leben". Es geht um "die Bewahrung der Schönheit". So wird Buron de Preser ihr Umbau- und Sanierungsprojekt schließlich nennen. Im August 2018 geht es los.


Der monolithische Quader von 7 x 7 Metern Grundfläche und 22 Metern Höhe ist fensterlos. Lediglich vier schmale Lichtschlitze verwandeln das Dunkel der Glockenstube in Dämmerung. Diese Spalten müssen verbreitert werden. Zudem ist es unumgänglich, in den anderen vier Stockwerken Fenster einzuschneiden.

Die Ausweitung der Lichtschlitze auf 40 Zentimeter breite, bodentiefe Fenster ist ein beeindruckendes Unterfangen. Im nahen Simonswald wird der Spezialbetrieb Karlheinz Hug gefunden. Der setzt schienengeführte und handgeführte Diamantsägeblätter ein und vollbringt das Kunststück, 7,5 Meter lange Stelen an einem Stück aus den massiven Betonwänden zu schneiden und diese dann auch noch durch das kleine Oberlicht in der Decke der Glockenstube zu manövrieren. Dank einer besonders erschütterungsfreien Technik gelingen die Schnitte bis zu einer Wandstärke von 65 Zentimetern nahezu ohne Toleranzen. Toleranz üben bei den tagelangen Betonschneidearbeiten jedoch die Anwohner. Sie waren zuvor persönlich informiert worden und beweisen ihre Freude darüber, dass der Turm erhalten bleibt, indem sie Lärm, Staub und Behinderungen in der engen Straße geduldig ertragen. Selbst der an das Grundstück grenzende Kindergarten und benachbarte Schulen werden ins Kommunikationskonzept einbezogen: Für die Kinder ist die Baustelle ein Event.


Auf die Betonschneider folgen weitere Fachhandwerker; Fenster werden eingebaut, manche Räume mit einer Innendämmung versehen, Böden geschliffen, Elektrik- und Sanitäreinrichtungen installiert. Knifflig wird es nochmals, als der Treppenschacht eingebaut wird, er verändert die Statik des Turms und verlangt Ausgleichsmaßnahmen an anderer Stelle.

Architektur als Ladestation

Wer der freundlichen Aufforderung, "Kommen Sie doch bitte herein", folgt, steht mit einem Schritt in der Erdgeschosskapelle. Jener Raum, der in der Vergangenheit als einziger kontinuierlich genutzt wurde, wird noch immer vom schmucklosen monolithischen Altarstein dominiert. Daneben prägen heute aber den Raum eine einladende Tafel, eine kleine offene Küche, ein Sanitärräum, der Zugang zum Treppenhaus und – in etwa drei Metern Höhe – ein Alkovenzimmer wie in einem Bühnenbild. Das alles kontrastiert intensiv mit den rauen Betonwänden und den 1,5 mal 1,5 Meter großen Marmorfliesen.
In den nächsten drei Stockwerken des ehemaligen Kirchturms befinden sich je 40 qm große Gästezimmer. Oder doch "Geästezimmer"? Da der Kirchturm im Süden und Osten von großen, alten Bäumen umwogt wird und exakt an diesen Stellen die Fenster eingeschnitten wurden, fühlt man sich wie in einem Baumhaus. Der Ausbau und die Gestaltung dieser Räume unterstützen diesen Eindruck. Die Wände sind teilweise von Künstlerinnen bemalt, die Räume zwar spärlich aber ausgesucht möbliert, wobei den Sichtachsen hinaus ins Grün große Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Denn diese Zimmer sollen Kraft-Orte sein. Refugien für Menschen, die zur Ruhe kommen wollen, die ihre Batterien aufladen möchten. Wohn- und Arbeitsorte auf Zeit.

Darüber hinaus plant Buron de Preser, den Turm zu öffnen für Menschen mit Interesse an Architektur, an Kunst, kurzum: an Schönheit. So soll der massive Betonquader in einen Ort der Leichtigkeit transformiert werden. Ausstellungen, Lesungen und Empfänge könnten vor allem die einstige Kapelle und die Glockenstube beleben.

Die Glockenstube

Der 63-stufige Aufstieg im einstigen Kirchturm ist inszeniert wie eine Initiation. Von der boden-schweren Erdgeschoss-Kapelle führt die Treppe durch die laubumtanzten Natur-Räume, bis man im Höchsten, der himmelsnahen Glockenstube steht. Der überstreckte Raum hat eine Grundfläche von 6,5 x 6,5 Metern, und von seinem dunklen, glattgeschliffenen Betonboden bis zur Decke sind es 8 lichte Meter, die vom endlos lang erscheinenden Rauchrohr der freihängenden, offenen Feuerstelle noch betont werden. Der Raum hat seine sakrale Atmosphäre behalten, unwillkürlich spricht man gedämpft. Obwohl an die südliche Wand gerückt, verleiht der Kamin dem Raum einen Mittelpunkt. Wie die Feuerschalen antiker Tempel oder das ewige Licht in einer Kathedrale erinnert die Inszenierung an das Verhältnis des Feuers zum Sakralen.

Ingrid Maria Buron de Preser hat dieses Spiel mit dem göttlichen Funken sehr bewusst in Szene gesetzt: "Ein offenes Feuer im Haus ist für mich die Basis, der Anfang von allem." Mit der Firma Benz Ofenbau aus Ohlsbach fand sie einen technischen Partner, der ihre Wünsche verstand. So konnte der freihängende, drehbare Designklassiker "Gyrofocus" auch mit einem 7,5 Meter langen Rauchrohr von der Decke abgehängt werden. Die sinnlich geschwungenen Formen des Focus-Kaminofens kontrastieren die strenge kubische Architektur, wobei die Reduktion auf den puren Stahl mit dem rohen Beton korrespondiert. Die beiden Wechselwirkungen machen deutlich, dass der meisterliche Umgang mit der Form den gekonnten Umgang mit dem Raum ergänzt. So wie die Glocke einst im Mittelpunkt der sakralen Nutzung des Kirchturms stand, ist der Kamin jetzt das Zentrum des profanierten Baus. Der "Gyrofocus" stand Buron de Preser bereits vor Augen, als sie das erste Mal über die mit Vogelkot verschmierte Sprossenleiter in die Glockenstube geklettert war. An den Arbeiten von Kamindesigner Dominique Imbert hatte ihr immer schon gefallen, dass dieser "Vision und Passion" lebt. Dass er nie nachließ, Handwerk, Kunst und Design zu verknüpfen. Als der "Gyrofocus" dann endlich hing und zum ersten Mal ein Holzfeuer in ihm brannte, fühlte sie sich bestätigt: "Kein anderer wäre gegangen".

Der Umbau des Turms ist eine beeindruckende Hommage an den "béton brut". Nun dürfen sie kommen – die Kunst- und Architekturfreunde, die Gäste, auch wenn noch nicht alle Arbeiten abgeschlossen sind, denn auf dem Flachdach soll noch eine Terrasse entstehen, die nicht nur begehbar, sondern bepflanzbar sein wird; Urban Gardening in Freiburg mit einem Hochbeet der besonderen Art. Das wird noch kommen. Im Moment überwiegt die Erleichterung, dass die Verwandlung des Turms gelungen ist. Vielleicht ist das auch der geeignete Moment darüber nachzudenken, nicht nur die "Betonmonster" zu retten, sondern auch den Geist, dem sie entstammen, neu zu entdecken: ehrlich, solidarisch, einer besseren Zukunft zugewandt. Und vielleicht steht in Freiburg das passende Symbol für diesen Gedankensprung: Die Karte Nummer 16 im Tarot trägt den Namen "Der Turm". Sie symbolisiert einen "Wechsel und Neubeginn, der mit Erkenntnis einhergeht".

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