27.07.2018

Die Evolution von oï

Seit 1991 agieren und kreieren Patrick Reymond, Armand Louis und Aurel Aebi (v.l.n.r.) als atelier oï und verfolgen eine gemeinsame Mission: gutes Design. Foto: Yoshiaki Tsutsui

"In der Mitte von allem und gleichzeitig im Nichts – ein sehr ungewöhnlicher Ort für ein Design-Studio." Mit diesen Worten beschreibt das Gründer-Trio des Studios atelier oï den Schweizer Ort La Neuveville am Bieler See. Dass die "drei Musketiere" des Schweizer Designs aber dennoch weltweit prämierte Projekte, Installationen und Produkte umsetzen, spricht für die idyllische Lage – und vor allem für die Kreativität und die interdisziplinäre Arbeitsweise, die Aurel Aebi, Armand Louis und Patrick Reymond seit mehr als 27 Jahren auszeichnen. Warum gutes Design wie Musik ist und welche Rolle dabei Emotionen, Material und der japanische Designer Shigeru Uchida spielen, erklärt Patrick Reymond im Interview mit Cornelia Gross.

IF: Im Buch "How Life Unfolds" habe ich das Zitat "Einer für alle – alle für einen" gelesen, das sich auf atelier oï als die drei Musketiere bezieht. Können Sie das so unterschreiben? Und falls ja, wie haben sie es geschafft, so lange so gut zusammenzuarbeiten? 
Patrick Reymond: Ja, dem stimme ich zu. Wir haben uns am Ende unserer Studienzeit kennengelernt und gemeinsam an einem Wettbewerb teilgenommen. Armand lebte zu dieser Zeit in La Neuveville, dem Ort, aus dem auch ich stamme, während Aurel und ich in Lausanne studierten. Schon im Studium haben wir beide als Team gearbeitet – grundsätzlich stand die Zusammenarbeit in Lausanne im Vordergrund. Also weniger das eigene Ego und die Tatsache, dass ein Design von einem allein stammt. Das Projekt hat Priorität. Es ist vergleichbar mit einer Band, die am Ende des Tages gute Musik machen will, und das geht nur, wenn verschiedene Musiker und verschiedene Instrumente zusammenspielen. Auch wir drei sind sehr verschieden, aber genau das macht uns aus. Gemeinsam fokussieren wir uns auf das Projekt – es ist wie unser Stern, dem wir folgen.
Unser Zusammentreffen war ein glücklicher Zufall, und daraus entstand eine organische Verbindung, die nun seit mehr als 27 Jahren besteht. Für Außenstehende mag das schon aussehen wie bei den drei Musketieren, die fest zusammenhalten und eine Mission verfolgen. Unsere Mission ist gutes Design! In diesem Ziel sind wir verbunden. Es liegt auch an der Art und Weise, wie wir zusammenarbeiten. Es ist eine Art Kettenreaktion. Einer spricht, der Andere hört zu, und der Dritte fängt bereits an zu zeichnen. Dann halten die ersten beiden inne, betrachten die Skizzen und beginnen darüber zu reden. Und so setzt sich das fort, bis wir zu einem Ziel gelangen ...

Armand Louis, Patrick Reymond und Aurel Aebi (v.l.n.r.) im Jahr 1990. Foto: atelier Oï

IF: Das bedeutet, dass sie immer zu dritt an allen Projekten arbeiten? Es gibt keine "Zuständigkeitsbereiche"?
Reymond: Nein, wir experimentieren, entwickeln und kreieren immer gemeinsam. Es kommt aber vor, dass einer vielleicht etwas mehr in die Abwicklung involviert ist, weil er den Kunden besser kennt. Z. B. bei den Projekten in Japan: Wir gestalten gemeinsam, aber ich bin dann meistens alleine vor Ort.


IF: Ist während des Studiums auch gleich die Idee entstanden, ein eigenes Büro zu gründen?
Reymond:
Nicht wirklich, es hatte eigentlich mit einem Projekt zu tun. Es war 1989, und wir waren im letzten Studienjahr in Lausanne gerade dabei, unsere Diplomarbeit abzuschließen. Wir hatten gerade Armand kennengelernt, unseren ersten gemeinsamen Wettbewerb gewonnen und überlegt, wie wir den Entwurf vertreiben können. Dann haben wir an einem weiteren Wettbewerb mit dem Titel "Bathroom 2001" teilgenommen und ebenfalls gewonnen. Es ging dabei um das Bad der Zukunft, und unser Entwurf war ein minimales Objekt, das überall eingesetzt werden kann. Der Hersteller, der den Wettbewerb ausgelobt hatte, wollte das Projekt verwirklichen und riet uns dann, eine Firma zu gründen. Also haben wir 1990 entschieden, ein offizielles Büro zu gründen, mit einem offiziellen Namen – von dem Geld, das wir im Wettbewerb gewonnen hatten. Obwohl wir natürlich den Traum hatten zu reisen. Vor allem nach Japan und dort eventuell bei unserem Lieblingsdesigner Shigeru Uchida oder Tadao Ando zu arbeiten. Aber durch dieses Bad-Projekt mussten und wollten wir einfach starten.


IF: Wie ist der Name atelier oï aufgekommen?
Reymond: Auch das stand im Zusammenhang mit dem Bad-Projekt, denn der Auslober des Wettbewerbs stellte uns die Frage, wie unsere Firma, die wir ja noch gar nicht hatten, heißt ... Da die Skizze für unseren Bad-Entwurf eher einer abstrakten Signatur glich, wollten wir diese in eine
Marke übersetzen, und in einen Namen für unser Büro. Sie sollte ausdrücken, dass wir einen gemeinsamen Weg haben, eine Arbeitsweise und Philosophie teilen. Wir waren damals begeistert von Gruppierungen wie Memphis, und der Tatsache, dass unterschiedliche Designer in einer Gruppe zusammenarbeiten. Wir wollten also nicht unsere eigenen Namen hernehmen, sondern als Team auftreten und Raum für weitere Mitglieder freihalten. Der Name oï entstand dann aus dem russischen Wort Troika, das für einen Wagen steht, der von drei Pferden gezogen wird. Wir hatten das Bild von uns dreien vor Augen, wie wir mit einem kleinen Wagen um die Welt ziehen – beladen mit einer Werkstatt und unseren Projekten. Um nochmal auf die Signatur zurückzukommen: Der Bad-Entwurf hatte von oben aus betrachtet die Form eines Spermatozoids. In uns entstand daraus die Idee der Evolution, also das wir nun mit einem Team aus drei Personen starten und wachsen und eventuell einmal ein Team aus 30 Personen werden. Die Signatur ist mittlerweile verschwunden, aber unser Traum, irgendwann mit vielen Kreativen zusammenzuarbeiten, ist nun Realität. Für uns sind die Menschen, mit denen wir arbeiten, Familie. Für sie wollen wir ein sicheres Umfeld schaffen, das auch nach unserer Zeit bestehen kann. Wir haben Mitarbeiter, die seit mehr als 15 Jahren bei uns sind und die unsere Arbeitsweise teilen.

IF: Sie sprechen von einer besonderen Arbeitsweise, die sie sich im Laufe der Zeit angeeignet haben und im Studio kultivieren. Können Sie uns diese genauer beschrieben?
Reymond: In unserem Buch "How Life Unfolds" gibt es eine Passage, in der wir unseren kreativen Prozess beschreiben und ihn mit dem Musizieren und Kochen vergleichen. Im Moïtel, ein altes Motel, das wir zu unserem Studio umgestaltet haben, pflegen wir z. B. ein Living Archive. Das ist eine Ansammlung von Materialien, Ideen, Prototypen und Elementen aus vergangenen Projekten. Ähnlich wie ein Koch, der aus verschiedenen Zutaten ein Gericht zusammenstellt, testen auch wir diese Materialien, Ideen und Inhalte und kombinieren sie immer wieder neu. Wir sind Entdecker mit all unseren Sinnen. Das Living Archive ist wie eine Rezept-Sammlung in einem lebendigen und dreidimensionalen Buch. Wir haben für unseren Arbeitsprozess auch das Wort "Storytecture" erfunden. Das bedeutet für uns die Materialisierung von Stories. Jedes Projekt hat eine andere Geschichte und einen anderen Kontext. Und diese einzigartige Geschichte verwandeln wir in ein ganz spezifisches Design. Der Inhalt steht also vor der Form. Und manchmal gibt es Elemente und Strukturen aus unserem Living Archive, die in einem ganz anderen Projekt in ganz anderen Formen, Materialien und Maßen wiederkehren. Es ist also eher ein Archiv aus Experimenten, das in der Zwischenzeit rund 20.000 "Exponate" umfasst. Und unser Team tagtäglich inspiriert.

IF: Es geht also vorrangig um Inhalt und Material?
Reymond: Ja. Um Inhalte, Materialien und den Kontext. Und um Erinnerung und Emotion. Wir haben eine tiefgreifende emotionale Verbindung zu unseren Projekten und besonders zu Materialien. Unser Credo lautet auch nicht "Form Follows Function", sondern "Form Follows Emotion". Der erste Schritt geht immer von einer Emotion aus. Wie bei dem Koch, der von seinem Geschmackssinn ausgeht und ein Gericht entwickelt. Selbstverständlich muss daraus auch eine Funktionalität entstehen.


IF: Das sieht und spürt man bei Ihren Projekten. Die Materialität der Produkte, die Haptik steht im Vordergrund.
Reymond: Ja, das wollen wir auch mit unserer aktuellen Ausstellung "oïphorie" im Museum für Gestaltung in Zürich ausdrücken. Es ist das erste Mal, dass wir auf über 900 qm nur unsere eigenen Projekte und Produkte inszenieren. Das ist sehr interessant für uns, denn so eröffnet sich ein neuer Blickwinkel auf unsere eigene Arbeit. Und es zeigen sich auch Querverbindungen zwischen den Projekten. Dadurch lernen wir sehr viel. Das war auch das Ziel von "How Life Unfolds", das übrigens auch für uns eine Überraschung war, denn wir haben einem jungen, talentierten Designer eine Art Freischein für unser Archiv gegeben, und er hat daraus dieses Buch entwickelt.

27 Jahre atelier oï auf 900 qm offenbart die Ausstellung "oïphorie", die noch bis zum 30. September 2018 im Museum für Gestaltung Zürich zu sehen ist. Als Momentaufnahme konzipiert, vermitteln Installationen, Experimente und Projekte den kreativen Schaffensprozess des Studios. Begleitet wird die Ausstellung durch das Buch "How Life Unfolds", in dem nicht nur Archivmaterial der letzten Jahrzehnte gezeigt wird, sondern auch Partner und langjährige Begleiter der Schweizer Designer zu Wort kommen. Fotos: atelier oï

IF: Sie sprachen gerade von Querverbindungen in Ihrer Arbeit? Gibt es eine Art roten Faden – eine erkennbare atelier-oï-Handschrift?
Reymond: Ich denke, es gibt ein Element, das sich durch all unsere Projekte zieht: die Perfektion der Struktur. Die Struktur ist bei uns eigentlich immer das vorrangige Mittel für den ästhetischen Ausdruck. Die Form entsteht nicht aus der Handschrift des Designers, sondern wird durch die Wahl des Materials und durch das Material selbst bestimmt. Wir folgen mit unseren Händen also eigentlich nur dem Willen des Materials. Und versuchen nicht, es in eine unnatürliche Form zu bringen. Sobald man mit Strukturen spielt, geht es auch um Bewegung. Selbst wenn es in vielen Fällen keine "echte" Bewegung ist, sondern nur eine optischer Effekt. Oder eine besondere Beleuchtung. Eine typische Handschrift gibt es nicht, aber ich würde behaupten, dass wir typisch schweizerisch arbeiten. Nicht in puncto Wiedererkennungswert – vielmehr geht es um eine typische Schweizer Arbeitsweise, die sehr handwerklich orientiert und perfektionistisch ist.


IF: Kommt dieses starke Verständnis von Materialien und die emotionale Verbundenheit auch durch ihre enge Zusammenarbeit mit den Handwerksbetrieben? Wie z. B. den Glasbläsern in Murano, den Sattlern bei Louis Vuitton oder den vielen jahrhundertealten Werkstätten in Japan.
Reymond: Ja, das ist fundamental für uns! Wir wollen diese enge Verbindung mit den Handwerkern, um den Herstellungsprozess zu verstehen, die Geschichte der Betriebe zu hören und die Handwerkskunst wirklich wertzuschätzen. In Japan haben wir z. B. mit Betrieben der Region Gifu, die zwischen Kyoto und Tokyo liegt, zusammenarbeiten dürfen. Die Region ist wunderschön – Flüsse, Wälder und Berge mit Schnee – ähnlich wie die Schweizer Landschaft. Die Menschen dort nutzen nur die Materialien, die ihnen die Natur gibt. Und sie kümmern sich um die Natur und die Ressourcen. Die Verwendung von Holz, Keramik und Metall für Messer steht im Vordergrund. Daraus entstehen wundervolle Produkte, und das Wissen über deren Herstellung wird von Generation zu Generation weitergegeben. Wir haben dort mit einem Schmied zusammengearbeitet, der in der 26. Generation die Kunst der Schwertschmiederei bewahrt. Das sind 780 Jahre Familienwissen. Hier in Europa gibt es noch vereinzelt familiengeführte Unternehmen – vielleicht höchstens in achter Generation. Und die meisten Firmen beschäftigen CEOs, die nach zwei Jahren das Unternehmen wieder verlassen. Ich nenne das CEO-Tourismus. Ähnlich wie in Japan war es auch bei dem Projekt mit Louis Vuitton. Vor dem Start unserer Zusammenarbeit haben wir die Einladung in den Familiensitz erhalten. Das war ein wunderschönes und intimes Erlebnis – besonders, weil ich eine andere Vorstellung von dem Unternehmen hatte. Aber es ist ein kleines Haus und nebenan ist eine kleine Werkstatt, in der früher die klassischen Koffer hergestellt wurden und in der noch immer deren Spezialanfertigungen produziert werden. Diese intime Atmosphäre mit der Familie zu teilen, hat uns emotional berührt, und das ist auch in das Design der Produkte übergegangen. Es ist sehr wichtig, um die Welt zu reisen und Einblicke in diese Schatzkammern voll Wissen zu bekommen. Besonders für uns, mit unserer Basis im 4.000-Seelen-Ort La Neuveville. Wir sind in der Mitte von allem und gleichzeitig im Nichts. Es ist ein sehr ungewöhnlicher Ort für ein Design-Studio. Aber es ist der Ort, aus dem wir kommen. Und wir sind frei, Projekte auf der ganzen Welt anzunehmen. Wir sehen das Moïtel als Platz für Konzentration und als unseren Rückzugsort, mit dem grenzenlosen Bieler See vor uns. Wir brauchen die Abwechslung zwischen diesen beiden Welten.

IF: Wie ist die tiefe Verbundenheit mit Japan entstanden? Im Buch heißt es, dass sie alle drei schon während der Studienzeit große Bewunderer von Shigeru Uchida waren?
Reymond: Im Studium haben wir von Armands Schwester ein Buch über Shigeru Uchida bekommen, es hieß Studio 80. Und ab diesem Zeitpunkt waren wir fasziniert von seiner Arbeit, von dem starken Ausdruck in seinen Produkten und in seiner Architektur. Und von dem Bezug zur traditionellen Kultur, die aber in einer zeitgemäßen Art und Weise dargestellt ist. Minimalismus und pure Ästhetik. Uns hat auch seine Verbindung zur Memphis-Gruppe fasziniert. Und die Zusammenarbeit mit Yoshi Yamamoto oder Issey Miyake.
Mit diesem Buch haben wir über die ganzen Jahre gearbeitet – es ist ein wichtiger Bestandteil unserer Living Archives und vermutlich das meistgenutzte Buch bei atelier oï ... Und vor gut drei Jahren, als wir wieder ein Projekt in Gifu hatten, durften wir Uchida dann tatsächlich in Tokyo treffen – 25 Jahre, nachdem wir das Buch bekommen hatten. Wir haben ihm unsere Arbeit gezeigt, und er hat bemerkt, dass unsere Philosophie seiner ähnelt. Es war fast, als hätten wir unseren vierten Musketier gefunden. Wir haben angefangen, gemeinsame Projekte zu verwirklichen, wie die Leuchte "oïchida". Leider ist er vor einem Jahr verstorben, aber wir arbeiten weiterhin mit seinem Studio – das ist unsere japanische Familie geworden.

Die besondere Verbundenheit zu Japan feiert atelier oï mit dem Projekt "Casa Gifu", das zur Milan Design Week 2018 bereits in dritter Auflage stattfand. Im Fokus stehen traditionelle Handwerkskünste der japanischen Region Gifu, die atelier oï in Form von Produkten und Projekten aus Holz, Papier, Metall und Keramik neu interpretiert. Fotos: atelier oï/Gifu Prefecture

IF: Das Buch "How Life Unholds" ist wie eine Galerie, mit allen Werken von atelier oï. Aber es soll keine Retrospektive, sondern eher eine Momentaufnahme sein – genauso wie die Ausstellung "oïphorie". Sie sagen auch, dass ein Innehalten und ein Erinnern an vergangene Projekte nötig sind, um wieder Neues zu gestalten. Nun, da Sie diese Momentaufnahme haben – wie geht es weiter? Wie gestaltet sich die Zukunft für atelier oï?
Reymond: Ich denke, für uns ist es vor allem wichtig, aus allen Projekten zu lernen. Wir hatten besonders viel Freude an der Gestaltung der Ausstellung. Installationen, und damit verbunden, die Möglichkeit Emotionen in Menschen zu wecken, begeistern uns. Wenn wir in diesem Bereich mehr arbeiten könnten, wäre das fantastisch. In einem Hotel geht es z. B. auch um den Menschen und darum, ihm ein Zuhause auf Zeit zu bieten. Es geht um Emotionen, die in den Gästen erweckt werden. Und darum, Geschichten zu erzählen, mit Objekten und dem Raum. Außerdem können wir von der Gebäudehülle bis ins Detail gestalten und ein zusammenhängendes Konzept entwickeln. Installationen und Hotels zu gestalten, ist also ein Wunsch für die Zukunft. Und wir haben das Glück, momentan ein Hotel in Kyoto entwickeln zu dürfen, bei dem wir wieder eng mit dem Studio von Shigeru Uchida und japanischen Handwerksbetrieben zusammenarbeiten.


IF: Herr Reymond, herzlichen Dank für das inspirierende Gespräch!


www.atelier-oi.ch


Das Interview ist in InteriorFashion 2|2018 erschienen.

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